Was aus einem Schweidnitzer Kinde alles werden kann
Man schrieb den 26. März 1856. Unser liebes Schweidnitz trug noch sein schweres, beengendes Festungsgewand; wo heut unsre schönen Promenaden die Stadt umgeben, sagen Glacis und Sternschanzen; in der Linie von Moltke-, Margareten-, Wilhelm- und Breslauer Straße zog sich der innere Wall. Der Bahnhof war aber schon seit einem Jahr, bei Verlängerung der Strecke von hier nach Reichenbach, vom Ende der Vorwerkstraße auf den jetzigen Platz verlegt worden, wo das „interimistische‟ Gebäude dann 50 Jahre gestanden hat. Auch das Gymnasium hatte schon sein jetziges, als Schulgebäude nicht gerade vorbildliches Heim auf der Köppenstraße bezogen. Aus diesem stürmten gegen Abend des genannten Tages sieben frische junge Leute vergnügt heraus; sie hatten soeben die Reifeprüfung bestanden! Wie verhext war es damit gewesen, als ob alle bösen Mächte sich gegen sie verschworen hätten! Im Vorjahr war der gütige alte Konsistorial- und Schulrat Menzel gestorben, und an seine Stelle war der gestrenge Provinzialschulrat Dr. Scheibert getreten, der gleich mit einer fünftägigen Revision der Anstalt seine Tätigkeit eröffnete und dann ein solche Fülle grundstürzender Neuerungen einführte, daß der Direktor Held die „Chronik‟ des Jahres mit dem Stoßseuzfzer schließt, Gott möge den Lehrern Kraft geben, alle die neuen Weisungen in Ausführung zu bringen. Die schriftliche Prüfung war ja ganz nett vorübergegangen. Freilich verlautete insgeheim, eine mathematische Arbeit (Zirkel) und ein lateinisches Skriptum (Seiffert) seien „nicht befriedigend‟ genannt worden; wie kann man aber auch „reliquitur‟ schreiben! Dahingegen seien aber auch wieder recht viele Leistungen „gut‟ gewesen! Am 26. Februar sollte die mündliche Prüfung stattfinden! (Befreiung von derselben gab´s damals noch nicht!) Welch herrliche Zeit dann bis zum 20. März, für den der Beginn der Osterferien angesetzt war! Da erkrankte der Direktor, der Termin musste verschoben werden. Unerhört! Man legte ihn fast an den Schluß der Freizeit, auf den 26. März! Aber nun war auch dieser Tag glücklich vorüber! Alle sieben hatten bestanden! Sechs davon waren Auswärtige; nur einer stammte aus Schweidnitz, Konrad Studt, mit 17 ½ Jahren (er war am 5. Oktober 1838 geboren) einer die Jüngsten von allen. Sein Vater war der Rechtsanwalt Gustav Adolf Studt, der sich 1832 in Schweidnitz niedergelassen und sich mit Christiane Weinbrich, aus einer Breslauer Patrizierfamilie stammend, vermählt hatte. Aus dieser Ehe waren außer zwei Töchtern vier Söhne hervorgegangen, deren ältester Konrad war. Als Ältester hatte er dem Vater immer besonders nahegestanden. Von ihm, der einst als Student in Breslau ein berühmter Fechter, Schwimmer und Turner gewesen war, hatte sein Stammhalter die Freude an körperlichen Übungen geerbt, von ihm aber auch die Liebe zur Natur. Ist doch die einzige Erinnerung aus frühester Kindheit, die die „Vita‟ des Abiturienten zu melden weiß, die, daß ein schöner geräumiger Garten beim Hause sich befand, in dem er und seine Geschwister sich nach Herzenslust tummeln durften. Ein vom Vater erworbenes Landgut bot einen herrlichen Ferienaufenthalt, und als vor einigen Jahren Kränklichkeit ihn zur Aufgabe seiner Berufstätigkeit zwang, da war die Familie aus der bedrückenden Enge der Festung hinausgezogen nach dem jetzigen Hause Bahnhofstraße 12. Von einer Reise nach Italien im Jahre 1845 hatte der alte Studt manche naturgeschichtlichen Merkwürdigkeiten mitgebracht; das spornte den Sohn zur Anlegung planmäßiger Sammlungen an, die er auch wissenschaftlich zu ordnen beflissen war. Dieses Interesse hat ihn bis ins hohe Alter nicht verlassen. Es kam ihm zustatten, als 1854 das Gymnasium von der alten Stätte seines Wirkens, dem jetzigen Lutherheim, auf die Köppenstraße verlegt wurde; da war Studt den Lehrern ein sachkundiger Gehilfe, der die Umräumung der Sammlungen mit drei anderen Sekundanern und ebensoviel Primanern besorgte. Als Primaner hat er dann selbst Reisen machen dürfen, so ins Riesengebirge und in die sächsische Schweiz; natürlich versäumte er bei letzterer Gelegenheit auch nicht, die einzigartigen Kunstschätze Dresdens gebührend zu bewundern.
Aber kehren wir zu seiner Kinderzeit zurück! Als Rechtsanwalt hatte Studts Vater vielfach Wagenfahrten zu den vor 1848 bestehenden gutsherrlichen Patrimonialgerichten zu machen. Dabei pflegte er Konrad mitzunehmen und kürzte die Langeweile der Fahrt, um ihm den ersten Unterricht zu erteilen. Lesestunden und Religionsunterricht förderten den Knaben so, daß er nach kurzer Vorbereitung Michaelis 1846 in die 3. Klasse der ev. Volksschule eintreten konnte, die er dann durchmachte. Wiederum durch Privatunterricht gefördert, erlangte er Pfingsten 1848 die Aufnahme nach Quinta des Gymnasiums, dessen Klassen er dann regelrecht absolvierte. Mit besonderer Liebe hing er, wie alle seine Mitschüler, an dem Prorektor Brückner, dessen Tod am 21. Januar 1853 ihm überaus tief zu Herzen ging. Sekunda und Prima setzten dem verehrten Lehrer im Herbst des Jahres ein Grabdenkmal. In der obersten Klasse genoß Studt den besonders anregenden und sorgfältigen Unterricht des Direktors Held, der ein Menschenalter hindurch die Anstalt geleitet hat. Von 31 Wochenstunden gab er allein 17. Im Griechischen unterrichtete Guttmann, der ein Jahr später als Direktor nach Brieg kam. Mathematik lehrte Türkheim, der verdienstvolle Gründer unseres Gewerbevereins, der übrigens ganz kurz nach der Reifeprüfung Studts, am 7. April, auf dem Schulwege plötzlich durch einen Schlaganfall seinen Tod fand. Geschichte und Erdkunde vertrat Konrektor Dr. Schmidt, ein Verwandter Studts. Sprachen fielen Studt besonders leicht. Vom Latein bezeugt das Held bei seiner Beurteilung der Prüfungsarbeiten; im Griechischen und Französischem fühlte es Studt selbst, in letzterer Sprache umsomehr, als seine Eltern sich ihrer im täglichen Gespräch gewöhnlich bedienten.
Nun war das Ziel erreicht! Es ging zur Universität! Konrad wählte die Wissenschaft seines hochverehrten Vaters, die Rechtskunde. In Breslau trat er, durch den großen heimischen Verwandtenkreis an Geselligkeit gewöhnt, in das Korps Borussia ein. Auch als er Ostern 1857 nach Bonn ging, wurde er Mitglied der Saxonia dort. In ihr, wie nach seiner Rückkehr nach Breslau in der heimischen Verbindung, hat er Chargiertenposten bekleidet. Das hinderte aber ein rechtzeitiges Erledigen der ersten der drei damaligen Staatsprüfungen nicht; aber noch ehe der frischbackene Auskulator den Staatsdienst antrat, begann er die Ableistung des Militärjahres. Am 1. April 1859 wurde er Einjährigfreiwilliger der 5. Kompanie 11. Grenadier-Regiments. In eben der Kompanie hatte einst 1824 sein Vater als Flügelmann gestanden. Die weitherzige damalige Dienstauffassung machte es Studt möglich, am 8. Juni desselben Jahres beim Schweidnitzer Kreisgericht in den Staatsdienst einzutreten. Als der spätere Kaiser Friedrich in dieser Zeit das Regiment zu besichtigen kam, bezog Konrad nebst seinem gleichfalls bei der Kompanie dienenden Bruder den Ehrendoppelposten beim Empfang des hohen Herrn. Im Mai 1861 wurde Studt Referendar, blieb aber noch bis November hierorts, um dann an das Stadtgericht und Appellationsgericht in Breslau versetzt zu werden. Als 1863 der polnische Aufstand uns zum Besetzen der russischen Grenze zwang, kommandierte man ihn zum 50. Infanterie-Regiment als Landwehrleutnant. Diese Einziehung kostete ihm ein Jahr; denn es schloß sich der Krieg um Schleswig-Holstein daran, der ihn nach Jütland führte. Trotzdem bestand er schon im Frühjahr 1865 die dritte und letzte, die Assessorprüfung mit „gut‟ und wurde auf den 15. Januar des Jahres vorpatentiert. Beim Breslauer Stadtgericht, dessen Zivilprpozeßabteilung er überwiesen wurde, sollte er nicht lange verbleiben; der Krieg gegen Österreich rief ihn aufs neue zu den Waffen. In der entscheidenden Schlacht bei Königsgrätz gelange es ihm, ebenso wie dem Leutnant v. Hindenburg, unserem jetzigen Reichspräsidenten, eine feindliche Batterie zu überrumpeln und zwei Geschütze zu erobern; gleich jenem erhielt er dafür den Roten Adler IV. Kl. mit Schwertern. Nach der Rückkehr vom Feldzuge ging er von der Richterlaufbahn zur Verwaltung über. Vom Mai 1867 an vertrat er den erkrankten Justitiar bei der Abteilung des Innern in der Regierung zu Breslau. Schon nach 5 Monaten wurde er mit der Verwaltung des Landratsamtes in Obornik nördlich von Posen betraut. Kurz vorher verlobte er sich mit Luise Witte, Tochter des Rittergutsbesitzers Witte in Chrustowo bei Samter. Nachdem er im Sommer 1868 zum Landrat ernannt worden war, fand die Hochzeit am 24. September statt. Der Ehe ist eine Tochter Martha entsprossen, geboren am 6. September 1869. Beim Ausbruch des Krieges 1870 hatte Studt zunächst als Landrat die Mobilmachungsarbeiten seines Kreises zu leiten; Mitte August aber wurde er selbst eingezogen. Er wurde der Nachrichtenabteilung des stellvertretenden Großen Generalstabes in Berlin überwiesen. Dann übertrag man ihm die Führung eines Generalstabskartentransports nach dem Hauptquartier in Ferrières; nach dem Fall von Straßburg wurde er Adjutant des dortigen Gouvernements, bis ihn Ende Oktober eine Order in die Verwaltung des Generalgouvernement in Reims berief. Er wurde Generalsekretär des Departements Seine et Marne mit dem Sitz erst in Meaux, später in Melun, dessen waldreiche Umgebung von Franktireurs wimmelte. Im April 1871 kehrte er, mit dem Eisernen Kreuz geschmückt, heim in sein Amt. Hebung des Volksschulwesens inmitten der überwiegend polnischen Bevölkerung, Bodenverbesserung und Fürsorge für das Verkehrswesen, namentlich Landstraßenbau, nahmen seine Tätigkeit in Anspruch. Sein festes und bestimmtes, zugleich aber auch dem sachlichen Gegner gegenüber gewandtes und versöhnliches Wesen lenkte bald die Aufmerksamkeit der Zentralverwaltung auf ihn. Gegen Ende des Jahres 1875 berief ihn Graf Friedrich Eulenburg als Hilfsarbeiter in sein Ministerium des Innern. Für die ihm obliegende Vorbereitung von Gesetzen zur Abänderung von Kreis- und Städteordnung kamen ihm die mehrjährigen in Posen unter schwierigen Verhältnissen gesammelten Erfahrungen sehr zugute. Die gemeinsame Arbeit mit dem Vortragenden Rat von Brauchitsch führte zu einer Beteiligung an dem von diesem begonnenen Werk: Kommentar zu den neuen preußischen Verwaltungsgesetzen, was nach dem 1882 erfolgten Tode seines Mitarbeiters Studt allein weiterführte.
Im April des genannten Jahres ward der vielseitig bewährte Beamte zum Regierungspräsidenten in Königsberg ernannt. In diesem größten Regierungsbezirk der preußischen Monarchie hatte er ein 41 Köpfe starkes Kollegium zu leiten. Mit besonderer Sorgfalt nahm er sich der Weiterbildung der 15 Regierungsreferendare an. Die Aufgaben, die seiner harrten, waren, wenn auch in größerem Umfange, etwa die gleichen, wie in dem früheren Landsratsamt. 1884 bei Bildung des neuen Staatsrates wurde Studt in denselben berufen. Das wichtigste Gesetz, was hier, unter dem Vorsitz des Kronprinzen beraten wurde, war das Ansiedlungsgesetz für Posen und Westpreußen. Gerade jemand, der sich in schwierigsten Bezirken der Lage voll gewachsen gezeigt hatte, schien geeignet, in die dornenvolle Stellung eines Verwaltungsbeamten in Elsaß-Lothringen einzutreten. Im April 1887 erfolgte Studts Ernennung zum Unterstaatssekretär in Straßburg. Statthalter war damals Fürst Chlodwig Hohenlohe, der spätere Reichskanzler. Protestwahlen im Februar, der Fall Schnäbele hatten der deutschen Regierung große Hemmnisse bereitet. Wie sehr Studt sich trotzdem auch hier bewährte, beweist der Umstand, daß ihm Ende Mai 1889 das Oberpräsidium der Provinz Westfalen anvertraut wurde, gerade in gefährlichster Zeit. Ein großer Bergarbeiterstreik hatte zahlreiche Industrien ergriffen, Militär mußte das Streikgebiet besetzen. Studts festem und gewandtem Auftreten gelang es aber, die Ordnung wiederherzustellen. Er zog aus den Ereignissen dann aber auch die nötigen Folgerungen für die Gesetzgebung. Die 10 Jahre, die er in Münster zubrachte, sind für die Provinz ganz besonders segensreich gewesen. Eifrige Tätigkeit galt hier namentlich dem Schulwesen, von der Volksschule an bis zur Akademie in Münster, deren Interessen er auch noch später durch Schaffung einer juristischen Fakultät wahrnahm. An diesem Platz bot sich auch reiches Feld der Tätigkeit für seine Gattin, die an die Spitze des Vaterländischen Frauenvereins trat. Studts Tochter hatte sich schon in Straßburg mit dem damaligen Oberleutnant v. Drabich-Wächter vermählt (6. Oktober 1888). Der Ehe sind drei Söhne entsprossen, deren jüngster, Adolf Friedrich, auf unserem Gymnasium zurzeit der Reifeprüfung entgegensteuert. Das Ehepaar, nun Generalleutnant v. Drabich-Wächter und Frau, lebt jetzt in dem benachbarten Kynau.
Als Studt 1899 zur Erholung im Engadin weilte, berief ihn ein schleuniges Telegram nach Berlin. Am 2. September erfolgte seine Ernennung zum Kultusminister. Die Trauer in Münster über den Fortgang Studts und seiner Gattin war groß! Ein Fackelzug von über 6000 Teilnehmern bewies, welche Liebe beiden von weitesten Kreisen der Bevölkerung darbebracht wurde. Eine in Westfalen vielverbreitete Postkarte enthielt sein Bild mit der Unterschrift:
„Achtung, Liebe bracht‘ entgegen
Jeder Mann Dir, jeder Stand,
Und Dein Wirken war ein Segen
Für der roten Erde Land!‟
Seine Hauptleistung in der neuen Stellung war die Entwerfung und glückliche Durchbringung eines seit 80 Jahren immer wieder vergeblich angestrebten Volksschulunterhaltungsgesetzes. Unendliche Verhandlungen mit den Parteien des Abgeordneten- wie des Herrenhauses, das Aufbieten der ganzen ihm eigenen Geschäftsgewandtheit war nötig, um das oft gefährdete Werk unter Dach zu bringen. Am 6. Juli 1906 konnte eine Depesche nach Aalesund dem Kaiser das endliche Gelingen melden. Die Antwort war die Verleihung des Schwarzen Adlerordens, mit dem der erbliche Adel verbunden ist. Am 14. Juni des folgenden Jahres veranlaßten die Beschwerden des herannahenden Alters Studt, den Abschied zu nehmen. Derselbe ward unter anerkennendsten Worten zugleich mit lebenslänglicher Berufung ins Herrenhaus genehmigt.
Vom 24. bis 26. Januar 1908 feierte unser Gymnasium sein 200jähriges Jubelfest. Da hatten wir die hohe Ehre und Freude, an der Spitze von 400 zum Teil von weither geeilten früheren Schülern auch Seine Exzellenz den Staatsminister Dr. von Studt hier begrüßen zu können. In dankbarem Andenken steht es uns, die wir an dem Fest teilnahmen, wie seine hohe ehrfurchtsgebietende Gestalt sich bei Tafel erhob, um den ersten Trinkspruch auf den Landesherren auszubringen!
Als Ruhestandssitz wählte er sich erst Hannover, später Berlin. Noch manche glückliche Jahre waren ihm beschieden; aber auch den Zusammenbruch des Vaterlandes zu schauen, blieb ihm nicht erspart. Am 29. Oktober 1921, in dem hohen Alter von 83 Jahren, ist er heimgegangen! Wahrlich, ein Leben, was köstlich war, da es Mühe und Arbeit gewesen ist!
Worthmann
Quellen:
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